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Bermudamäßig ungenau

Unser Bermudadreieck reichte vom Kontiki über das Chlodwig-Eck vom Clemens Böll – das am Chlodwigplatz war und nicht wie heute Ecke Annostraße – bis zum Delirium, machte kehrt und marschierte zum Fertig und über den Kurfürstenhof wieder runter zum Kontiki. Da hieß das aber schon wieder anders und später, aber nur studienhalber, denn das war nach meiner Zeit, ging man zur Ubierschänke. Zugegeben: ein sehr stumpfer Winkel, fast schon eine Linie. Nachts erweiterte sich das Dreieck zum Viereck durch die Paulusglocke. Meist aber erst auf dem Rückweg aus den anderen Bermudadreiecken, die an der Zülpicher und zwischen Aachener und Maastrichter lagen. Also Auswahl war da. Die Rolandstr. 92 lag jedenfalls außerhalb all dieser Dreiecke und wenn man da aufkreuzte, war es auch schon ernst, d.h. man war außerhalb seiner eigentlichen Profession und die hieß Rausch – wie auch immer. Es war zumindest der ernsthafte Versuch aufzubringen aus seinen Liebesabsichten – denn die trieben einen dahin – Ernst zu machen und unter Leuten, die etwas ernst meinten, nämlich ein Haus zu besetzen und für die Absicht der Stiftung, ein Haus für Künstler zu sein, mit ihrer eigenen Persona und Figura, Grips und Talent einzustehen, wenigstens die Nüchternheit einer ehrlichen Absicht bereitzuhalten oder – in den gelungensten Fällen – wenigstens vorzutäuschen.

Es gab da sowieso noch eine andere Grenze, die Grenze des Bermudadreiecks – wie der Name sagt: eine Zone, aus der die Todgeweihten grüßen – die zu überschreiten war. Und das war zusätzlich noch die Grenze vom Underground zum Studenten. Doppelte Grenzüberschreitung. Das waren ja Werkkunstschüler, die dieses Haus besetzt hielten. Man selbst war ja Original – Rimbaud oder so was, mindestens Keruac, Jack. Auf jeden Fall war man Gußschleifer, oder Großmarktfahrer bei Moskopp oder im Umzugsgeschäft beim Asta-Schnelldienst. Meist war man besoffen, soff wie die Hornissen oder kochte mit dem Ehrenwerten Sing-Ling Chin und las. Um die Wette mit Sing. Bei den Hausbesetzern gab es Besprechungen, Haussitzungen und natürlich die Geliebte. Und Leute, die insgesamt durch ihren Fleiß, ihre Produkte und Absichten doch befremdeten und also etwas mitleidig und ironisch zu betrachten waren. Christoph zog mal großformatige Abzüge von Fotografien aus der Badewanne. Lisa war die Freundin von Christoph. Sie trug da noch keine Schwesterntracht, Al war noch nicht im Haus.

Georg Roloff rumorte mit einem lachenden Ohr unterm Dach. Entscheidender war, was Anna trug oder nicht trug. Anna Heike. Matratze auf dem Boden, Kleider an einer Kleiderstange quer durch den Raum hoch hängend. Also flog man ein und aus. Wie die Motte. Geriet taumelnd ins Licht dieser Leute. Taumelte sie durcheinander. Sah auch sie taumeln bei schwindenden Sinnen – aber immer entwischten die Hausbesetzer dem Untergang, weil sie (mehr als) eine Spur aufrechter, williger, fähiger waren als die Bermuda-Untergänger. Bis auf Christoph. Der fiel. Hab ich nicht kapiert. Von der Südbrücke. Auch Rainers Freundin fiel in dieser Zeit. Aus dem 4. Stock. Im Zugweg.

(von links:) Sing Ling Chin, Tochter von HW Bott, Hans-Werner Bott, ca. 1983 / Foto: Lisa Cieslik

(von links:) Sing Ling Chin, Tochter von HW Bott, Hans-Werner Bott, ca. 1983 / Foto: Lisa Cieslik




Wir hatten Glück. Wir hatten wirklich Glück. In dieser Zeit hatte Anna alles Glück. Strahlte nachts. Unterwegs. War schön tags. Nachts mehr. Sparte. Reiste. Indien. New York. Machte diesen Film mit Annie Sprinkle. Erzählte mir vom Sandwich in New York. Ich blieb ja dem hiesigen Trottoir treu. Für Jahre. In einer Mischung aus ländlichen Folklore Hüllen und den Uniformen eines Stadtcowboys hatte ich am ehesten was vom eseligen Parzival. Erlebte die Großen Kneipendarsteller als Dauergast vom Billard aus: Polke, Klauke, Kapitän Terror. Im Kurfürstenhof. Und hatte natürlich das Dach, Matratzen, Gartenstühle, meiner diversen Wirte Sing, Hanjo, Rainer zwischen riesigen Olivenbüchsen mit Rosmarin, dem ganzen Kräuterkram, der die Balkone zierte. Die Flachdächer auf den Hinterhofstücken in der Südstadt. Herrlich. Die Damen, die zum Sonnen kamen. Und natürlich – das Boudoir in der Rolandstraße. In dem ich zu gern heimisch geworden wäre. Und nicht heimisch werden konnte, wie das überhaupt nirgends möglich war. Obwohl auf treu und brav lief es eh nicht raus. In dem Haus, das ich meinte, ging ja die Szene ein und aus. Hoffte immer, dass das im zugehörigen Boudoir nicht so sei. Mein Herzeleide. Dementsprechend flitzte ich wie aufgeregter Hahn zwischen Bermuda und Boudoir hin und her. Auf unserer Wohnebene waren wir ja drei, ich der dritte als anerkannter Gast und wenn ein zweiter anerkannter Gast dazu kam, war es eng. Die Dame, die mir meinen Platz abspenstig machte. Wie wir das Leben litten und beklagten. Ich sehe sie vor mir, weiß ihren Namen nicht.

Eines Nachts gab es einen dritten anerkannten Gast. Per Hausbeschluß. Und der dritte anerkannte Gast in dieser Nacht war Michael v.B. Der wollte malen. Brauchte irgendwie Ruhe vor sich selbst. Sagte er. Aber wollte Anna. Sagte er uns, mir, nicht. Was für ein Licht in dieser Gemeinschaftsküche. Da hatte der ja schon Quartette geschrieben, die Beachtung fanden. Entwickelte eine Malerei, die Beachtung fand. Irgendwie ist das Werkstück, das er in dieser Nacht in Arbeit hatte, heute an meine Wand gelangt, ein Seestück. Ich weiß nicht, jeder dünstete irgendwie ein anderes Licht dazu, unter dieser Küchenfunzel. Und jeder nahm irgendwie eine andere Droge dazu. Koks im Spiel, Lexotanil, Speed, wer weiß. Kölsch auf jeden Fall. Kölsch ist ja nicht gerade ein Beruhiger, Kölsch ist wohl eher ein Krakeeler. Besonders wenn ein Korn dazu. Zwischen stumpf und obsessiv macht das. Und die andere war zwischen psychotisch, Valium gehemmt und Anti-Depressiva stur drauf und so Figur in Zement. Und der Michael mit dem echten Bild auf dem Küchentisch wahrscheinlich von edlerer Droge entrückt. Deren Wirkung er sich möglicherweise mit einem Gegenmittel versaute. Traue ich ihm zu. Jedenfalls er, der King. Närrisch. Sie, mächtig, als Sumpf-Geist („Onibaba – die Töterinnen“, lief damals im japanischen Kulturinstitut) und ich, ganz aufgelassener Flaschengeist, im Clinch miteinander. Typische Konstellation. Und dann geht alles zu Bruch, Geschrei, Katastrophe, ein riesiger Teppich aus zersprungenem Glas auf dem nackten Holzfußboden. Und Lisa und Anna, die uns aus unserer Katatonie lösen. Anna ist weg. Als würde sie mit einer natürlich-unheimlichen Krankheit genau dort versinken, woraus sie uns löste, als sie endlich auftauchte und uns berührte. Und wir auseinander gingen. Sie für immer. Unumkehrbar, versunken, im Glas.

Und heute ist es hell in diesem Haus. Alle sind geblieben. Alle haben sich bewährt. Die Damen. Alle haben sie Kinder groß gezogen. Die sind aus dem Haus. Sogar die Kunst ist aufgeblüht. Und ich bin mindestens so friedlich, dass ich feststelle, wie es hier inzwischen ist. Und unterm Dach rumort Georg. Wenn er nicht im Kongo ist.



„Shave“, Foto: Volker Nenzel

„Shave“, Foto: Volker Nenzel




Hans-Werner Bott Autor, Butoh Box Mobil, Theater & Galerie